Zwei Tage in Carcassonne



Zuhause haben wir ein Spiel. Carcassonne heißt es und als unsere Kinder jünger waren, haben wir es oft gespielt. Bei diesem taktischen Brettspiel entsteht nach und nach eine Landkarte mit Straßen, Klöstern, Wiesen und befestigten Städten. Die Kinder fanden es immer faszinierend und auch für uns Erwachsene war es keinesfalls langweilig. Carcassone ist aber auch ein realer Ort. Dort liegt nämlich Europas größte und besterhaltene mittelalterliche Festungsanlage.  In Südfrankreich steht diese Perle aller mittelalterlichen Städte, in einer geschichtsträchtigen Gegend, unweit der Großstadt Toulouse.
Genau da fliegen wir jetzt hin, diesmal zu dritt mit Tochter Milena. Wir haben noch einige Tage Urlaub und hoffen auf Sonne und Wärme im herbstlichen Süden. Glücklicherweise sind wir nicht vom Streik bei Eurowings betroffen, unser Flug wird von Germanwings durchgeführt und alles klappt problemlos. Das Flugzeug ist ungewöhnlich leer, fast schon ein wenig unheimlich. Vielleicht ist Toulouse nicht so das gängige Reiseziel? Wer weiß das schon...

Mit dem Mietwagen machen wir uns auf den Weg und sind schon am frühen Nachmittag in Carcassonne. Unser Hotel liegt in fußläufiger Entfernung zur Cité in einer der vielen engen Einbahnstraßen. Côté Cité heißt es, befindet sich in einem Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, das von Madame Simone regiert wird. Die uns auch gleich auf dem Hof freundlich mit einem französischen Wortschwall empfängt, nachdem wir unserem Renault entstiegen sind. Der Rest meiner Familie schaut mich irritiert fragend an, doch auch mein eingerostetes Gehirn kann die vielen französischen Worte so schnell nicht in einen logischen Zusammenhang bringen. Der letzte Frankreichurlaub ist schon einige Jährchen her und mein Schulfranzösisch fest verschlossen in einer wenig benutzten Schublade meines Gedächtnisses verstaut. Madame Simone kann auch kein Englisch, aber nach kurzer Zeit und Unterstützung durch so eine Art Gebärdensprache kommen wir gut miteinander klar.
Unser Zimmer erfüllt alle mittelalterlichen Klischees, Himmelbett, stuckverzierte, unerreichbar hohe Decken, antike Holzmöbel, Wandtüren, hinter denen sich das Bad versteckt und – natürlich – einen Kronleuchter. Ans Mittelalter angelehnt ist das elektrische Kaminfeuer, alles in allem ein Traum.
Wir richten uns ein und machen uns dann auf den Weg für eine erste Erkundung der über uns thronenden Festungsanlage. 
Auf Anraten von Madame Simone suchen wir als erstes eine Brücke auf, von der man die Cité in ihrer ganzen Pracht und Größe überblicken kann. Was für ein Anblick! Schade nur, dass das Wetter nicht so richtig mitspielt, so dass der Himmel sich der Festungsfarbe angleicht.
Danach steigen wir hinauf, um uns etwas später in den schmalen Gassen mit den wunderschönen Fachwerkfassaden wiederzufinden. Natürlich sind wir nicht allein, viele andere Touristen sind hier auf dem historischen Pflaster unterwegs. Carcassonne ist seit 1997 Weltkulturerbe und im Languedoc die am meisten besuchte Sehenswürdigkeit. Trotzdem sind an diesem wolkenverhangenen Herbsttag nicht so viele Menschen in der Stadt unterwegs, wie ich angenommen habe.
Kurze Zeit später haben wir Hunger und kollidieren damit – wie so oft – mit den französischen Essenszeiten. Alle Empfehlungen Madame Simones haben um diese Uhrzeit natürlich noch geschlossen, kein renommiertes Lokal öffnet in Frankreich vor 19 Uhr seine Pforten. Das ist unseren Mägen aber völlig egal und so sitzen wir schließlich in einem touristischen Restaurant am Place Marcou und verzehren unsere erste Cassoulet, eine Art südfranzösischen Eintopf. Die ganz schön viele weiße Bohnen beinhaltet. Trotzdem ist sie lecker und im Restaurant ist es warm, denn frecher weise hat es draußen begonnen zu regnen. Das haben wir so nicht bestellt. Angesichts des Wetters verzichten wir auf unser Nachtfoto von der Aussichtsbrücke, machen uns im strömenden Regen auf den Weg zurück zum Hotel und beschließen den Abend lesend im Himmelbett vor dem flackernden Elektrofeuer.
Unser üppiges Frühstück am nächsten Morgen bekommen wir in einem wunderschönen Salon serviert, danach machen wir uns erneut auf den Weg die Cité zu erkunden. Schließlich wollen wir noch das Château Comtal ansehen, das als letzte Fluchtburg auf der Westseite der Cité errichtet wurde. Und natürlich wollen wir auch über die Festungsmauern spazieren.
Nebel hüllt die Stadt ein, während wir zum Porte Narbonne hinaufstapfen, die Wolken hängen tief. Wird wohl heute nichts mit Fotos der Festungsanlage vor blauem Himmel im strahlenden Sonnenschein. Naja, man kann eben nicht alles haben. 
Während wir durch das Tor treten, frage ich mich unwillkürlich, wie es wohl gewesen sein mag sich hinter diesen Mauern zu verschanzen. Wie haben sich die Bewohner Carcassonnes gefühlt, als sie in den Albigenserkriegen von einem Kreuzfahrerheer belagert wurden? Ihr fragt euch warum in der christlichen Welt Christen ihre eigenen Festungsanlagen belagerten? Scheint tatsächlich absurd, war aber so. Im Languedoc haben sie nämlich im 12. Jahrhundert ihre eigene Kirche gegründet. Mit ihrer eigenen Vorstellung vom Glauben erkannten die sogenannten Katharer den römischen Papst nicht an und wo sie schon einmal dabei waren, den französischen König schon mal gar nicht. Wie man sich vorstellen kann, war das nicht sehr hilfreich, die heilige römische Kirche reagierte mit der Inquisition, der französische König mit anderen Formen der Gewalt. Überall im Land loderten die Scheiterhaufen, es wurde gemetzelt, niedergebrannt, zerstört und abgeschlachtet. Keine schöne Zeit!  Trotzdem hielten die Katharer noch eine ganze Weile aus, verschanzt in abgelegenen Bergfestungen gingen sie weiterhin im Verborgenen ihrem Glauben nach. Carcassonne musste sich übrigens im heißen Sommer 1209 nach zwölf Tagen Belagerung dem Kreuzfahrerheer ergeben. Wasserknappheit, ausbrechende Seuchen und die sengende Sommerhitze waren dafür verantwortlich. 
Von einer solchen sind wir heute weit entfernt, der Nebel hüllt die mittelalterlichen Mauern immer mehr ein, lässt Türmchen und Zinnen nur noch schemenhaft erahnen und verschluckt die Geräusche der umherstreifenden Touristengruppen. Wir zahlen den Eintritt für das Château Comtal, durchstreifen die kahlen Räume und wandern über die Mauern und Befestigungsanlagen. Es geht treppauf und treppab, während der Nebel nach und nach die Dächer der Stadt verschwinden lässt. Was für eine seltsame Stimmung, die den Ort noch verwunschener, noch mystischer erscheinen lässt. Nach unzähligen Schritten und nachdem mein Knie ganz klar erklärt, dass es nun genug hat, gönnen wir uns eine Pause auf dem Place Marcou. Es beginnt erneut zu nieseln. Was also machen wir mit dem restlichen Tag bei diesem entzückenden Wetter?
Unser Reiseführer weiß Rat und so machen wir uns kurze Zeit später mit dem Mietwagen auf den Weg eine Tropfsteinhöhle zu besichtigen. Das geht auch im Regen. Unser Weg führt uns am Canal Midi entlang, der Verlängerung des Flusses Garonne, der gebaut wurde, um einen schnellen Weg vom Atlantik zum Mittelmeer zu schaffen. Wobei schnell hier vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist, denn das Reisetempo der Boote lässt sich doch eher mit gemächlich umschreiben und wird durch eine Vielzahl von Schleusen gebremst. Aber diese Route erspart die Umrundung der iberischen Halbinsel und somit war es früher sicher durchaus eine Zeitersparnis.
Auf dem Weg zu den Grottes de Limousis finden sich nur wenige Orte, es wird einsam um uns herum. Dort angekommen ist die Führung gerade im Aufbruch, hastig bezahlen wir unseren Eintritt und laufen der Gruppe hinterher. Im Eingang lagern Weinfässer, den Wein kann man später auch in einem kleinen Shop kaufen. Unser Führer parliert wunderbar auf französisch, dem wir leider nicht folgen können, Erklärungen auf Englisch oder gar eine Führung in englischer Sprache ist nicht vorgesehen. Für uns muss also die Höhle an sich reichen und das tut sie durchaus.
Das Highlight findet sich in der letzten Höhle, ein Aragonit, der größte der Welt, der dort versteinerten Schneekristallen gleich verzaubert von der Decke hängt. Mit musikalischer Untermalung wird er den Besuchern so präsentiert, dass er auf jeden Fall einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
Als wir die Höhle verlassen, scheint die Sonne. Und begleitet uns auf unserem Rückweg. Überzieht Schafe, Lämmer und Hütehunde mit einem goldenen Glanz.
Unser Rückweg führt uns an Burgen und interessanten Fahrzeugen vorbei, an herbstlich rot gefärbtem Laub und rauschenden Bächen, bis wir in der Dämmerung Carcassonne wieder erreichen. Wir essen erneut in der Cité - Entenbrust, ausgesprochen lecker - streifen noch eine Weile durch die beleuchteten mittelalterlichen Gassen, versuchen ein nächtliches Foto der angestrahlten Festung und kuscheln uns schließlich in unsere Decken. Morgen gehts weiter ans Mittelmeer, irgendwo müssen wir den späten Sommer doch nocht finden.



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