Vor einigen Jahren. Alles läuft normal. Erkennbar daran, dass
sich meine Kilos wieder festsetzen. Heute ist Silvester. Die geplante Location
war ausgebucht. Wir feiern woanders. Gemeinsam mit Freunden. Stiefeln
frühzeitig durch den schmutzigen, aufgetürmten Schneematsch. Um noch einen
guten Tisch zu kriegen. Tischreservierungen waren nicht möglich. Angeblich.
Wir haben Glück. Ein Tisch für sechs Personen. In einer
Ecke. Leider nicht am Fenster. Die sind reserviert. Komisch. Ach so, es gibt
einen Rollstuhlfahrer. Niedrige Decken. Geschmückt mit Flitter und Papier. Man
läuft dagegen. Wenn man durch die Räume geht. Papierfäden streifen über
die Gesichter. Musik ist noch leise. Um uns herum füllen sich die Tische. Eine
Gruppe älterer Damen direkt neben uns. Keine Pappnasen. Aber auch keine
Verkleidungen?
Getränke holen. Whiskey. Cola. Wasser. Caipirinha.
Verteilt auf dem Tisch. Auf eine schöne Feier. Prost. Blick aus den
Augenwinkeln. Auch die Plätze an den reservierten Tischen füllen sich. Eine
gemischte Gruppe. Sie fotografieren. Mist. Wir haben den Fotoapparat
vergessen.
Es wird voller. Enger. Lauter. Lustiger. Die Musik wird
aufgedreht. Leider ist die Box hinter unserem Tisch kaputt. Knarrt und verliert
den Anschluss. Um dann wieder laut einzusetzen. Gespräche werden schwieriger.
Mein Blick schweift durch den Raum. Beobachtet. Betrachtet. Die gemischte
Gruppe gegenüber passt irgendwie nicht zusammen. Oder doch? Ansonsten ist unser
Alter gut vertreten. Auch Ältere. Wenige junge. Tanzen?...Tanzen!
Der DJ ist am anderen Ende des Raumes. Davor eine freie
Fläche als Tanzfläche. Nicht voll, aber gut belegt. Die Beleuchtung schummerig.
Lichtreflexe aus verschiedenen Ecken. Blenden kurz. Wandern über die Menge.
Beleuchten und tauchen erneut ins Halbdunkel. Zaubern Farbe auf Gesichter.
Lächeln. Sich dem Rhythmus hingeben. Gedanken ausschalten. Tanzen.
Mein Nacken prickelt. Etwas ist seltsam. Blicke mich um.
Mein Blick bleibt hängen. Eine Frau. Neben mir. Irgendwie altmodisch gestylt.
Helles Top, vielleicht hellblau? Darüber eine gerade fallende Bluse, dunkel.
Eine Hose oder einen Rock? Ich erinnere mich nicht. Haare leicht lockig,
brünett im Zwielicht. Gestuft bis zum Ansatz der Schultern. Mit Perlenkette.
Und Perlenohringen? Ein Bild steigt in mir hoch. Ich kann es nicht
fokussieren. Weckt eine Erinnerung. Die Frau ist groß. Größer als ich. Was
nicht häufig vorkommt. Für eine Frau sind die Schultern breit...Naja, meine
Schultern sind auch breit.
Ich drehe ihr den Rücken zu. Versuche den Gedanken zu
verscheuchen. Er setzt sich fest. Kann man ihn wegtanzen? Um mich herum
Menschen. Tanzend. Mal blau, mal rot, mal gelb beleuchtet. Es ist warm. Mir ist
heiß. Das Ganze ist irgendwie surreal. Das kann nicht sein...
Drehe mich erneut um. Da ist sie noch. Mustere sie
verstohlen. Und tanze dabei weiter. Automatisch. Die Musik nicht wirklich hörend.
Ihr Gesicht. Schon irgendwie weiblich. Mund und Nase, ja. Brille, o.k.
Augenfarbe? Sieht irgendwie falsch aus. Augenbrauen? Anders, aber möglich. Das
Gesicht ist schmaler. Haare? Nach Perücke sieht es nicht aus. Beiße mir auf die
Lippe. Hallo? Was denke ich da? Das kann nicht sein. Ich werde
schwachsinnig.
Sie tanzt weiter. Verhalten. Nicht mit vollem
Körpereinsatz. Glaube ich. Blickt in eine andere Richtung. Meine Augen wandern
in ihren Ausschnitt. Wenig Busen. Bedeckt. Kein Ansatz zu sehen. Könnte man so
herrichten. Ich schließe die Augen. Das Bild steigt wieder auf. Im Internet.
Ein Foto. Er. Mit Handtasche. Perücke. Und Perlenkette. Ich hatte einen Scherz
vermutet. Kann es sein?
Verdränge das ganze. Es ist Silvester. Ich will mich
nicht verrennen. Bin schließlich nicht allein hier. Wir wollen gemeinsam
feiern. Die Musik wird schlechter. Rückkehr an den Tisch. Trinken. Lachen.
Irgendwie ist das alles nicht real. Ich bin da, aber auch nicht da. Es ist
heiß. Fächel mir Luft zu. Mit der Getränkekarte. Die Gespräche erreichen mich
nicht wirklich. Während mein Blick über die Menge wandert. Ist sie irgendwo?
Ist er irgendwo? Was??
Musik wandert in mein Ohr. Das ist gut. Das ist tanzbar.
Lenkt vom Denken ab. Arbeiten uns durch die Papierschlangen bis zur Tanzfläche.
Schlängeln uns an im Weg stehenden Körpern vorbei. Da ist sie wieder. Tanzt.
Sieht mich an, als ich vorbeigehe. Erwartungsvoll? Nein, bestimmt nicht! Ich
glaube es nicht. Will es nicht glauben. Zweifel. Glaube es irgendwie doch.
Passen würde es. Zu allen Informationen. Die ich zusammengestalkt habe. Warum
hier? Warum jetzt? Meine Haare sind zu kurz. Zu viele Kilos. Die alle mal weg
waren. Da habe ich ihn nicht getroffen. Es ist immer noch wichtig. Ihn zu
beeindrucken. Schau, was aus mir geworden ist...
Er ist es nicht. Er ist es bestimmt nicht. Ich treffe ihn
als Frau. Auf einer Silvesterparty. So ein Schwachsinn. Meine Phantasie geht
mit mir durch. Hallo, kann mir jemand sagen, wo ich die Realität finde? Schweiß
läuft mir in den Nacken. Hitze. Viele Menschen in niedrigen Räumen. Die kleinen
Fenster sind beschlagen. Man kann nicht mehr hinaussehen. Wasser rinnt an ihnen
herab. Lichter streifen mich. Entlassen mich wieder ins Dunkle. Ich muss etwas
trinken. Zurück an den Tisch.
Da ist sie wieder. Da ist er wieder? Lächelt mich an.
Lächelt mich an? So ein Unsinn. Lächle ich zurück? Ich weiß es nicht. Fülle den
Caipirinha mit Wasser auf. Trinke. Als würde ich verdursten. Das ist alles
nicht richtig hier. Mein Blick bleibt hängen. Am Nachbartisch. Da sitzt sie.
Direkt gegenüber. In der gemischten Gruppe. Im Gespräch. Mit einer anderen
Frau. Streicht sich mit der Hand die Haare aus dem Gesicht. Eine typisch
weibliche Geste. Es erinnert mich an... An was? Das letzte Kaffeetrinken.
Er fragt, ob er rauchen könne. Zündet sich die Zigarette an. Hält sie.
Irgendwie weiblich. Es war befremdlich. Damals.
Unsinn. Das ist eine Frau. Da passen typisch weibliche
Gesten. Versuche mich auf unseren Tisch zu konzentrieren. Lache. Spreche. Und
trinke dabei. Rotwein. Vielleicht finde ich die Wahrheit darin. Mein Blick
bleibt aber immer am Nachbartisch hängen. Was ist das für eine Gruppe? Keine
Pärchen. Jedenfalls nicht offensichtlich. Die Männer auf der einen, die Frauen
auf der anderen Tischseite. Zufall? Das Alter schwer zu schätzen. Lauter
Schwule? Mit unterschiedlichen Neigungen? Die sich auch gerne mal als Frau
verkleiden? Oder eine sein wollen? Alles Männer? Nein, das kann nicht sein.
Einer dreht sich um. Blickt mich an. Direkt. Irgendwie
böse. Hat er meine Gedanken gespürt? Oder hat ihm jemand etwas erzählt? Über
mich? Das ganze wird seltsam.
Mitternacht. Der Discjockey hat vergessen die Zeit
vorzugeben. Egal. Wir zählen eigenmächtig. Prost Neujahr. Wieder ein neues
Jahr. Umarmungen. Küsse. Gute Wünsche. Alles strömt nach draußen. Es stockt vor
der Tür. Ich bleibe im Eingang stehen. Alleine. Draußen ist es zu laut. Zu
kalt. Zu eng. Die Nacht wird surreal. Zieht an mir vorbei. Kann nicht wirklich
sein. Gehe zurück an unseren Tisch. Versuche die Kinder zu erreichen. Besetzt.
Na klar, wie immer Silvester! Es gib auch noch ein Mitternachtsbuffet. Etwas
essen. Weiter trinken. Doch es wirkt nicht. Zwei aus unserer Gruppe
verabschieden sich. Wir sind nur noch zu viert.
Müdigkeit macht sich breit. Nicht bei mir. Aber bei
meiner Begleitung. Wir sitzen am Tisch. Unser Gespräch plätschert dahin. Ich
bin am Nachbartisch. Eigentlich. Beobachte. Sie. Oder ihn. Ich weiß es nicht.
Kann er es sein? Mein Blick ist fest. Auf sie gerichtet. Auf ihn gerichtet. Er
schaut nicht auf. Ist im Gespräch. Oder in Gedanken?
„Sebastian ?!“ tönt es von links. Der Herr an der
Stirnseite, tiefe Stimme. Keine Reaktion.
„Herr Dräger!“
Habe ich das jetzt wirklich gehört? Meine Ohren? Sind die
zuverlässig? Oder hören die nur was sie hören wollen? Kann man Halluzinationen
mit den Ohren haben? Ist das hier real? Oder Wunschdenken? Würde ich mir so
etwas wünschen?
Habe den Anschluss verloren. Meine Augen fressen ihn auf.
Versuchen die Bilder in Übereinstimmung zu bringen. Kann sein. Kann nicht sein.
Ich bin mir nicht sicher, ich bin mir nicht sicher, ich bin mir nicht sicher...
Er schaut nicht auf. Traue ich meinen Ohren? Wenn die Augen unsicher sind? Ich
habe Fieber. Bestimmt!
Wir brechen auf. Die Begleitung ist müde. Meine Augen
ruhen auf ihm. Auf ihr? Bis wir durch die Tür sind. Er sieht nicht her.
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Ich kann nicht
schlafen. Die ganze Nacht nicht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen