Büsum an der Nordsee - Gegensätze ziehen sich an?

In letzter Zeit bin ich viel im Norden unterwegs, man muss ja auch nicht immer so weit weg fahren. Vor einer Woche war ich an der Nordsee, in Büsum. Allein. Das ist immer noch ein bißchen ungewohnt, aber durchaus reizvoll, so unvertraut selbstbestimmt und doch ohne Einsamkeitsgefühl, wie mancher vielleicht vermuten würde.
Weit ist es eigentlich nicht von meinem Zuhause nach Büsum, lediglich 146 Kilometer. Doch eine Stunde brauche ich bereits durchs Hamburger Stadtgebiet, bis mich die verstopfte Dauerbaustelle der A7 aufs herzlichste begrüßt - natürlich mit stehenden Fahrzeugen Stoßstange an Stoßstange. Oder wie immer diese Plastikteile an den Autos inzwischen heißen mögen. Im Schneckentempo geht es voran, es wird gehupt und verzweifelt die Spur gewechselt, in der Annahme auf dieser einige Sekunden schneller ans Ziel zu kommen, während die fahle Sonne es scheinbar zum ersten Mal in diesem Jahr schafft sommerliche Temperaturen zu erreichen. Leicht irritiert stelle ich eine fast vergessenen Körperreaktion fest, ich schwitze. Gut, dass es eine Klimaanlage gibt. Nach gefühlten Stunden (tatsächlich sind es nur zwanzig Minuten) erreiche ich den Abzweiger auf die A23. Dort ist nichts los - und zack bin ich in Büsum.
Warum habe ich eigentlich diesen Ort gewählt? Weil er an der Nordsee liegt, warum sonst? Ich liebe die Nordsee. Wegen ihrer Wildheit, wegen ihrer Unberechenbarkeit. Wegen ihrer Zügellosigkeit, ihrer Schroffheit. Sie ist für mich so etwas wie die Verkörperung von Freiheit, lässt sich nicht einsperren und auch nicht zähmen. Das Wasser kommt und geht wie es will. Klar, den Zeitpunkt können wir berechnen. Aber in welcher Stärke und Intensität, das wissen wir nicht immer. Ich liebe es, dass der Wind hier immer ein wenig stärker bläst, dass hier in den Marschen scheinbar nichts ihm Einhalt gebietet, ich liebe die Weite und den hohen Himmel, das Geschrei der Möwen, den Geruch nach Salz und Feuchtigkeit, das Gefühl die nackten Füße im Sand vergraben zu können und die Sonne auf meiner Haut. Oder den Regen.
Mein erster Spaziergang durch Büsum zeigt mir, dass diese Stadt wohl versucht hat zu all dem einen Gegenpart zu schaffen. Noch bevor ich es überhaupt auf die Deichkrone schaffe und einen Blick auf die Nordsee werfen kann, werde ich durch eines der überall gegenwärtigen Schilder begrüßt, die mir ganz klar sagen, was in Büsum geht und was nicht. Nicht dass ich auf falschen Ideen komme!
Hier bleiben keine Fragen offen, auch solche nicht, die man sich nie gestellt hätte.
Oben von der Deichkrone fällt mein Blick dann auf die ordentlich aufgereihten Strandkörbe, die wuchtigen Soldaten gleich in Reih und Glied auf dem grünen Deich verteilt stehen. Hat man den Abstand mit dem Zollstock ausgemessen? Ob man die überhaupt verstellen darf? Oder müssen die in einem bestimmten Winkel ausgerichtet sein? Ich schaue mich um, ob es auch hierfür Anweisungen auf Schildern gibt, kann aber keine derartigen finden. Doch vielleicht bekommt man diese erst per Handzettel bei der Anmietung eines  solchen geflochtenen Refugiums. Wer weiß?
Zögerlich setze ich meine Füße auf die grau gepflasterten Wege, die auf der Deichkrone und unten am Wasser entlang Richtung Zentrum führen. Alles superordentlich, mit Treppen die ins Watt hinunter führen, Duschen, Bänken und Abfallbehältern in regelmäßigen Abständen, behindertenfreundlich und rollstuhlgerecht. Versteht mich nicht falsch, das ist natürlich alles toll und für viele Menschen auch absolut notwendig, aber für mich ist es so wenig Nordseelike...
Tatsächlich ist auch das Publikum an diese Umgebung angepasst und wären da nicht ein paar Familien mit Kindern, würde ich behaupten, dass ich den Altersschnitt zwischen all den Rollatoren schiebenden oder mit Gehstöcken bewaffneten Damen und Herren deutlich herabsenke.
Ich kaufe mir in der Touristeninfo eine Karte für die morgige Tour zu den Seehundsbänken - nachdem ich eine ziemlich lange Weile hinter einer sehr informationshungrigen Dame mit eisengrauer, dauergewellter Betonfrisur gewartet habe - bummele noch eine Weile durch den Museumshafen, bevor ich mich auf den Rückweg zu meinem Apartment mache.
Das liegt übrigens in Büsums Bausünde, einem in den Siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erbautem Hochhaus, das wie ein Fremdkörper am nördlichen Ende Büsums an der Familienlagune Perlebucht steht. Und so überhaupt nicht ins Landschaftsbild passt, was es mir schon wieder richtig sympathisch macht. Mein kleines Apartment ist im 20. Stock und bietet einen wunderbaren Ausblick auf die Nordsee. Der einzige Nachbar, mit dem ich hier in Kontakt komme, ist ein Vogel, der auf dem Nachbarbalkon brütet und mich jedesmal absolut ängstlich, fast schon entsetzt anguckt, wenn er mich auf dem Balkon sitzen sieht. Vielleicht hält er das Hochhaus für eine Klippe und fragt sich wie, um Gottes Willen, ich hier herauf gekommen bin. Wir arrangieren uns irgendwie, doch meist sucht er flatternd das Weite, sobald er mich bemerkt. Dabei bin ich gar nicht so furchtbar...
Die Fahrt zu den Seehundsbänken am nächste Tag gestaltet sich sehr kurzweilig. Der Himmel hat sich zugezogen, es tröpfelt sogar ein wenig, als wir um 11.15 Uhr Büsums Hafen verlassen. Ich sitzte draußen auf einer Bank im Heck des Dampfers, umringt von einer lustigen Familie irgendwo aus Mitteldeutschland. Das Wetter wird immer besser, je weiter wir aufs offenen Meer kommen und wir werden von Möwen begleitet, die sich was auch immer von uns erhoffen. Eine schafft es tatsächlich ihre Hinterlassenschaft wie eine Streubombe über uns abzuladen, als wären wir ihr Ziel gewesen. Rache, weil es keine Fischreste gab? Auf den Schreck zaubert die betagte Tante der Familie eine stattliche Anzahl kleiner Schnapsfläschchen aus ihrer Handtasche und verteilt diese an alle Umsitzenden. Es ist noch nicht einmal zwölf Uhr, aber was macht das schon...
Die Seehunde liegen in der Sonne auf der Sandbank. Scheinbar total entspannt rollen sie sich im nassen Sand, lassen sich ins kalte Nordseewasser gleiten oder schauen mit ihren großen dunklen Augen zu uns herüber. Ob wir sie wirklich nicht stören, weiß man nicht. Doch unser Schiff hält gebührenden Abstand. Das macht Handyfotos schwieriger, aber wahrscheinlich die Seehunde glücklicher. Ich ärgere mich ein wenig, dass ich keine richtige Kamera mitgenommen habe. Aber eigentlich ist nur der Moment wichtig und nicht ein gutes Foto.
Auf dem Rückweg wird es nebelig, andere Schiffe tauchen wie von Geisterhand aus den weißen Schwaden auf und gleiten lautlos über die wie ein Spiegel daliegende Wasserfläche. Wir erreichen Büsum pünktlich zur Mittagszeit.
Zeit für das obligatorische Krabbenbrötchen an der Nordsee, das seit meinem letzten Besuch deutlich teurer geworden ist. Krabben sind halt Mangelware, wer weiß wie lange wir die noch zu uns nehmen können.
Mein Nachmittag wird von einem Gewitter bestimmt, das langsam vom Westen her über die Nordsee auf Büsum zuzieht. Gigantische tiefdunkelblaue Wolkenberge stapeln sich dort in der Ferne, ein grandioser Anblick. Ich stehe auf meinem Balkon mit dem Blick in die Weite. Rausgehen? Rausgehen!
Der Spaziergang durch diese Gewitterstimmung ist grandios und endet... nass.
Ansonsten habe ich mein Wochenende genutzt, um viel zu lesen, mich zu bewegen oder einfach mal nichts zu tun. Natürlich bin ich auch mit nackten Füßen im Watt unterwegs, das gar nicht so kalt ist, wie man es nach all diesen Tagen mit schlechtem Wetter vielleicht erwartet hätte.
Am späten Sonntagnachmittag mache ich mich dann ordentlich durchgepustet, sonnenbeschienen und erholt wieder auf den Rückweg in meine Millionenmetropole. So eine kurze Auszeit ist wirklich etwas Feines.



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